Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15.Mai 2009 – 12 LC 55/07
Einleitung
Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat mit diesem Urteil zur Regel – Ausnahmewirkung des § 35 Abs.3 S.3 BauGB entschieden. Es geht dabei um die Beantragung einer 72 m hohen Windenergieanlage des Typs Enercon E-40/6.44 mit einer Nennleistung von 600 KW, die in einer niedersächsischen Küstengemeinde außerhalb der dort im Flächennutzungsplan ausgewiesenen Konzentrationszone beantragt worden ist.
Der Landkreis als Genehmigungsbehörde und das Verwaltungsgericht hatten den Antrag wegen entgegenstehendem § 35 Abs.3 S.3 BauGB abgelehnt.
Das Oberverwaltungsgericht sieht das anders.
Der einschlägige Gesetzestext laut folgendermaßen:
§ 35 Abs.1 Nr.5 BauGB:
Im Außenbereich ist ein Vorhaben nur zulässig, wenn öffentliche Belange nicht entgegenstehen, die ausreichende Erschließung gesichert ist und wenn es (Nr.5:) der Erforschung, Entwicklung oder Nutzung der Wind- oder Wasserenergie dient.
§ 35 Abs.3 S.3 BauGB lautet:
Öffentliche Belange stehen einem Vorhaben nach Absatz 1 Nr.2 bis 6 in der Regel auch dann entgegen, soweit hierfür durch Darstellungen im Flächennutzungsplan oder als Ziele der Raumordnung eine Ausweisung an anderer Stelle erfolgt ist.
Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 15.Mai 2009 – 12 LC 55/07 hierzu folgendes ausgeführt:
„
Das streitige Vorhaben ist gemäß § 35 Abs.1 Nr.5 BauGB im Außenbereich privilegiert zulässig. Ihm stehen öffentliche Belange im Sinne des § 35 Abs.3Satz 3 BauGB in Gestalt von Darstellungen im Flächennutzungsplan, die eine Ausweisung derartiger Vorhaben an anderer Stelle vorsehen, nicht entgegen. Zwar liegt hier eine solche Ausweisung mit der 21.Änderung der Flächennutzungsplanung der Beigeladenen vor. Den gegen diese Flächennutzungsplanänderung gerichtete Normenkontrollantrag hat der Senat mit Urteil vom heutigen Tag (12 KN 49/07), auf dessen Gründe verwiesen wird, abgelehnt. Diese Darstellung im Sinne des § 35 Abs.3 Satz 3 BauGB richtet aber kein absolutes Zulassungshindernis auf. Vielmehr tritt die Ausschlusswirkung ‚in der Regel‘ ein. In Ausnahmefällen kommt eine Zulassung auch im sonstigen Außenbereich in Betracht. Die ‚Regel‘-Formulierung ermöglicht eine Feindifferenzierung, für die das Abwägungsmodell auf der Stufe der Flächennutzungsplanung naturgemäß keinen Raum lässt. Sie verlangt, dass unter Berücksichtigung der konkreten Gegebenheiten das private Interesse an der Errichtung einer Windkraftanlage den öffentlichen Belangen der Nutzungskonzentration an anderer Stelle gegenübergestellt wird. Dies läuft, in ähnlicher Weise wie bei § 35 Abs.1 BauGB, auf eine nachvollziehbare Abwägung heraus, freilich unter umgekehrten Vorzeichen. Während der Gesetzgeber mit dem Tatbestandsmerkmal ‚entgegenstehen‘ die besondere Bedeutung der Privilegierung hervorhebt, die tendenziell zugunsten des Vorhabens zu Buche schlägt, bringt er mit der Regel-Ausnahme-Formel in § 35 Abs.3 Satz 3 BauGB zum Ausdruck, dass außerhalb der Konzentrationsflächen dem Freihalteinteresse grundsätzlich der Vorrang gebührt. Diese Wertung darf nicht im Zulassungsverfahren konterkariert werden. Eine Abweichung im Einzelfall ist zwar möglich, sie steht aber unter dem Vorbehalt, dass die Konzeption, die der Planung zugrunde liegt, als solche nicht in Frage gestellt wird. Das mit der Ausweisung an anderer Stelle verfolgte Steuerungsziel darf nicht unterlaufen werden (BVerwG, Urt. v. 17.12.2002 – 4 C 15.01 -, BVerwGE 117, 287, 302f). Das Bundesverwaltungsgericht hat zugleich ausgeführt, dass sich nicht in eine allgemeine Formel kleiden lässt, was die vom planerisch erfassten Regelfall abweichende Sonderkonstellation ausmacht. Es hat insoweit allerdings beispielhaft Umstände benannt, die die Annahme eines Ausnahmefalls rechtfertigen können. So kann sich die Atypik daraus ergeben, dass die Windkraftanlage wegen ihrer Größe oder wegen ihrer Funktion z.B. als einem anderen privilegierten Vorhaben zugeordnete Nebenanlage besondere Merkmale aufweist, die sie aus dem Kreis der Anlagen herausheben, deren Zulassung der Planungsträger hat steuern wollen. Auch Bestandsschutzgesichtspunkte können von Bedeutung sein. Ist in der Nähe des vorgesehenen Standortes bereits eine zulässigerweise errichtete Windenergieanlage vorhanden, so kann dies bei der Interessenbewertung ebenfalls zum Vorteil des Antragstellers ausschlagen. Auch die kleinräumlichen Verhältnisse können es rechtfertigen, von der auf den gesamten Planungsraum bezogenen Beurteilung des Planungsträgers abzuweichen. Ist aufgrund topografischer oder sonstiger Besonderheiten eine Beeinträchtigung der als störungsempfindlich und schutzwürdig eingestuften Funktionen des betreffenden Landschaftsraums nicht zu besorgen, so widerspricht es der Zielrichtung des Planvorbehalts nicht, das Vorhaben zuzulassen.
Hier liegen in sachlicher und räumlicher Hinsicht besondere Umstände vor, die entgegen der Regelaussage des § 35 Abs.3 Satz 3 BauGB geeignet sind, den Klägern den Weg zur Erteilung der von ihnen beantragten Baugenehmigung zu ebnen.
In dem Erläuterungsbericht Nr. 21. Des Flächennutzungsplans der Beigeladenen wird – worauf bereits das Verwaltungsgericht hingewiesen hat – dargestellt, dass innerhalb der beigeladenen Gemeinde zwischenzeitlich 60 Einzelanlagen errichtet worden seien, weil bis zu dem gegenläufigen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1994 viele Landwirte noch von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hätten, derartige Anlagen als Nebenanlagen zu landwirtschaftlichen Betrieben zu errichten. Hierdurch sei der Landschaftsraum K. erheblich in Anspruch genommen worden. Die Einzelanlagen belasteten den Außenbereich und indirekt auch den Innenbereich in vielen Belangen, sei es beim Naturschutz, Landschaftsbild, Denkmalschutz oder sonstiger städtebaulicher Entwicklung. Die Aufnahmekapazität der Außenbereichslandschaft lasse unter Berücksichtigung der vorgenannten Gesichtspunkte auch keine begrenzte Anzahl von Windenergieanlagen als zusätzliche Einzelanlagen zu. Um eine Bebauung nach dem ‚freien Spiel der Kräfte‘, die sich bei der Zulassung der Anlagen nach § 35 Abs.1 Nr.6 (nunmehr 5) BauGB zwangsläufig ergeben würde, entgegenzuwirken, bedürfe es einer städtebaulichen Lenkung. Das angestrebte planungsrechtliche Ziel der Beigeladenen , die Errichtung von Windkraftanlagen auf einem speziell geeigneten Standort zu konzentrieren, sei nur dann erfolgreich, wenn in dieser Flächennutzungsplanänderung Windkraftanlagen als Einzelanlagen oder Anlagegruppen außerhalb der ausgewiesenen Sonderbaufläche ausgeschlossen seien (Erläuterungsbericht S.36f).
Aus der Befugnis des Planungsträgers, die Windkraftnutzung zu steuern, folgt indes nicht, dass das Interesse eines Privaten an der Errichtung einer Windkraftanlage außerhalb der Konzentrationszone stets zurücktreten muss. Eine Abweichung ist vielmehr möglich, wenn die der Planung zugrundeliegende Konzeption nicht in Frage gestellt und da mit der Ausweisung an anderer Stelle verfolgte Steuerungsziel nicht unterlaufen wird. Das bedeutet nicht, dass ein Ausnahmefall von vornherein nur in Betracht gezogen werden kann, wenn – was allerdings dem Beklagten vorschwebt – eine Windkraftanlage (nur) knapp außerhalb der Konzentrationszone oder in unmittelbarer Nähe errichtet werden soll. Auch sonst ist eine Zulassung nicht ausgeschlossen, wenn das planerische Ziel nicht beeinträchtigt wird.
Das mit der Planung verfolgte Steuerungsziel geht hier dahin, Windkraftanlagen innerhalb der ausgewiesenen Sonderbaufläche zu bündeln, um der Gefahr einer Zersiedlung der Landschaft und einer Beeinträchtigung des Landschaftsbildes sowie der Erholungsfunktion zugleich unter Berücksichtigung der kulturhistorischen und denkmalpflegerischen Belange entgegenzuwirken (vgl. Erläuterungsbericht S.2) Diese Ziele werden an dem hier streitigen Standort nicht durchgreifend beeinträchtigt. Zwar sollen nach dem Planungskonzept auch (Einzel-)Anlagen außerhalb der Sonderbauflächen grundsätzlich nicht zulässig sein. Im Rahmen der Prüfung, ob im Einzelfall eine Ausnahme von der Regelwirkung des Plans in Betracht kommt, kann aber nicht unberücksichtigt bleiben, dass die geplante Anlage schon wegen ihrer Größe nicht zu den Anlagen gehört, mit deren Errichtung nach fortgeschrittenen technischen Stand typischerweise zu rechnen ist und die der Planungsträger vornehmlich im Blick gehabt hat. Sie bleibt vielmehr mit einer Nabenhöhe von 50 m, einem Rotordurchmessen von 44 m, mithin einer Gesamthöhe von 72 m, deutlich hinter den inzwischen allgemein üblichen Anlagen zurück. Sie soll zudem eine seit Jahren vorhandene – wenn auch kleinere – Anlage ersetzen, die nach den modifizierten Angaben der Kläger in der mündlichen Verhandlung über eine Nabenhöhe von 40 m und einem Rotordurchmesser von 27 m verfügt. Zudem ist insbesondere bedeutsam, dass von den Klägern eine weitere Anlage , die nach ihrem unbestritten gebliebenen Vortrag in der mündlichen Verhandlung im Jahr 200 errichtet worden ist, ca. 200 m östlich des für die neue Anlage vorgesehenen Standorts zulässigerweise betrieben wird. Diese nicht einmal 150 m von der Grenze zum Gebiet der Beigeladenen entfernte Anlage des Typs Enercon E-40/5.40 mit 40 m Rotordurchmesser bei einer Nabenhöhe von 50 m weist damit praktisch das gleiche Erscheinungsbild wie die geplante Anlage aus und prägt bereits jetzt und auf Jahre hinaus maßgeblich das Umfeld des streitigen Standorts. Demgegenüber ist der Standort der geplanten Windkraftanlage am äußersten Rand des Gemeindegebiets der Beigeladenen unmittelbar an der Grenze zur Nachbargemeinde J. gelegen. Der Abstand zwischen dem bereits auf dem Nachbargemeindegebiet belegenen Hof der Kläger und dem Standort der neuen Windkraftanlage beträgt rund 100 m. Im Hinblick auf die Vorprägung der Umgebung sind nachteilige, gerade von der geplanten Anlage ausgehende Wirkungen auf das Landschaftsbild nicht zu erwarten.
Im Übrigen wird das von der Beigeladenen verfolgte planerische Ziel auch angesichts der Randlage, in der die Anlage errichtet werden soll, nicht in beachtlicher Weise berührt. Wie dargelegt geht es der Beigeladenen darum, die Windkraftanlagen im Prinzip innerhalb der ausgewiesenen Sonderbaufläche zu konzentrieren, um die Gefahr einer Zersiedlung der Landschaft, einer Beeinträchtigung des Landschaftsbildes und der Erholungsfunktion wirksam entgegenzuwirken sowie den Gesamteindruck des großflächigen Naturraum- und Landschaftsbildes der Gemeinde K. als ‚weites Land ‘ auch weiterhin zu gewährleisten (Erläuterungsbericht S.2). Aus diesen Planungsvorstellungen lässt sich nicht ableiten, dass die Windkraftanlagen ausschließlich in der Mitte des Gemeindesgebiets der Beigeladenen konzentriert werden sollen und deshalb die Randbereiche ausnahmslos freizuhalten sind. Der Beigeladenen musste auch vor vornherein klar sein, dass sie mit der Darstellung der Konzentrationsfläche ein absolutes Zulassungshindernis außerhalb dieses Bereichs nicht würde aufrichten und die Freihaltung von Randbereichen des Gemeindegebiets nicht schlechthin würde erreichen können. Dagegen spricht schon, dass in den Gebieten der Nachbargemeinden eine Reihe von Windkraftanlagen, mindestens in einem Falle sogar ein faktischer Windpark (Gemeinde L.) vorhanden waren, von denen angesichts der Nähe der Standorte zur Gemeindegrenze der Beigeladenen zwangsläufig Auswirkungen auch auf ihr Gemeindegebiet ausgingen und auch für die Zukunft nicht zu vermeiden waren. Unter diesen Umständen kommt dem Interesse der Beigeladenen, das Gemeindegebiet – abgesehen von der Sonderbaufläche – von Windkraftanlagen freizuhalten, in den Randberteichen, die bereits durch die Windenergienutzung nachhaltig geprägt werden, nur ein geringes Gewicht zu.
Die von den Klägern geplante Anlage am äußerten Rand des Gemeindegebiets stellt insoweit auch keine schwerwiegende Belastung dar, weil sie das Landschaftsbild und den Gesamteindruck des Naturraums im Gebiet der Beigeladenen weitgehend unberührt lässt. Dieser als Standort vorgesehene Randbereich ist zudem nach dem Gutachten der Landschaftsarchitekten Prof. Dr. M. und N. ‚Landschaftsbild, Kulturlandschaft und Windenergie in den Gemeinde O., L. und K. im Landkreis P., Juni 2003) allenfalls von mittlerer Empfindlichkeit (dort als Landschaftsbildeinheit 2409-5 bezeichnet, S.14), der mit den Nachbareinheiten sogar im Sinne einer lokal konzentrierten Planung als geeignet angesehen wird, in Anlehnung an bereits bestehende Einzelanlagen einen größeren Windpark aufzunehmen.
Der Senat vermag überdies nicht die Annahme des Verwaltungsgerichts zu teilen, dass die planerische Konzeption der Beigeladenen, die Errichtung von Windkraftanlagen innerhalb der im Flächennutzungsplan ausgewiesenen Sonderbaufläche – Windpark Q. – zu konzentrieren und (auch) Einzelanlagen außerhalb dieser Fläche im Regelfall auszuschließen, durch die beantragte Genehmigung unterlaufen würde, weil damit ein Nachahmungseffekt in vergleichbaren Fällen verbunden wäre. Da eine Ausnahme von der Ausschlusswirkung von vornherein nur unter besonders gelagerten Umständen, die in jedem Einzelfall konkret festzustellen sind, in Betracht gezogen werden kann, ist nicht zu erwarten, dass von einer derartigen Einzelfallentscheidung eine (allgemeine) Vorbildwirkung ausgehen kann. Auch deshalb spricht wenig dafür, dass die von dem Beklagten geäußerte Befürchtung, die Entscheidung in diesem Verfahren könne in 20 oder mehr Fällen Vorbildwirkung haben, berechtigt sein könnte. Dieses Vorbringen ist auch allgemeine geblieben und nicht näher konkretisiert worden, zumal die Kriterien, anhand derer sich die genannte Zahl ergeben könnte, unbestimmt geblieben sind. Derartige Kriterien lassen sich abstrakt auch nicht abschließend benennen. Der Umstand, dass sich eine vorhandene Windkraftanlage in der Nähe eines landwirtschaftlichen Hofes befindet und ersetzt werden soll, reicht jedenfalls für die Annahme eines Ausnahmefalls für sich genommen ebenso wenig aus, wie die Feststellung, das sich der streitige Standort am Rande des Gemeindegebiets befindet. Vielmehr kommt es auf eine Zusammenschau der die Örtlichkeit prägenden Umstände und darauf an, ob unter Berücksichtigung der konkreten Gegebenheiten das private Interesse, die Windenergie an dem streitigen Standort (auch weiterhin) zu nutzen, gegenüber den öffentlichen Belangen, wegen deren die Nutzung ‚an sich‘ an anderer Stelle konzentriert werden soll, Vorrang verdient. Das ist hier aus den angeführten Gründen der Fall; die Zulassung des Vorhabens im Sinne eines Ausnahmetatbestands gemäß § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB stellt die der Planung zugrundeliegende Konzeption